Die Stimmen der Jugendlichen aus Groß-Klein: „Ich bin hier um zu leben. In Sicherheit und Freiheit.“

In den vergangenen Tagen wurde in verschiedenen Medien in ganz Deutschland über die Situation in Rostock-Groß Klein berichtet. Weil Innenministerium, Polizei und Stadtverwaltung ein zweites „Rostock-Lichtenhagen“ befürchten, zogen einige Jugendliche in einen anderen Stadtteil.

„Rostock hilft“ fiel auf, dass in der ganzen Debatte nirgends direkte Fragen an die asylsuchenden Jugendlichen, die in Groß Klein leben, gerichtet wurden. Wir haben deshalb mit einem der Jungen gesprochen, die derzeit dort wohnen. Er ist seit fünf Monaten in Rostock. Sein Weg begann in Afghanistan. Er möchte nicht namentlich genannt werden, da er Angst um seine Familie in Afghanistan hat.

Wir haben über die Situation vor Ort und seine Wünsche in Deutschland gesprochen. Das Gespräch fand auf deutsch statt. Im Folgenden lest ihr eine Zusammenfassung des Gesprächs, die wir gemeinsam erarbeitet haben.

„Ich bin hier um zu leben. In Sicherheit und Freiheit. Und das tue ich. Aber ich mache mir Sorgen um meine Familie. Sie können nur hier her kommen, wenn ich Asyl bekomme, bevor ich 18 werde. Meine Mutter ist krank, sie sollte hier sein. Jetzt, nach fünf Monaten, verstehe ich Deutschland schon gut und könnte ihnen alles zeigen.

Egal, wo ich in Rostock lebe – Evershagen, Groß Klein, Lütten Klein -, folgendes ist wichtig: Ich möchte für immer in Rostock bleiben. Ich möchte in keine andere Stadt und in kein anderes Land.

Für mich ist wichtig zu sagen: Mein Herz mag Rostock. Ich kann hier mit vielen Menschen sprechen, die mir helfen. Viele sind in den letzten Tagen gekommen und haben gefragt: »Was braucht ihr? Was wollt ihr?« Zum Beispiel die Betreuer und die Chefin hier im Teilhabezentrum, eine Journalistin, und jetzt »Rostock hilft«. Ich möchte hier ins Teilhabezentrum kommen und ich brauche das. Hier sind Menschen, die mir helfen, die Kultur in Deutschland zu verstehen und wie alles funktioniert. Und die mich ernst nehmen. Auch die Jungs, die weggezogen sind, kommen noch hier her. Einer von ihnen hat gesagt: »Ich lebe in [einem anderen Stadtteil*]. Mein Herz lebt in Groß Klein.«

Nazis sind mir egal. Ich habe kein Problem mit Nazis. Ich habe keine Angst vor ihnen. Weil Nazis nicht wissen, warum wir hier her kommen. Sie wissen nicht, dass wir Probleme in Afghanistan haben. Taliban, Daesh**. Die Nazis wissen das nicht. Sie brauchen eine Lehrerin, die ihnen erzählt, welche Probleme die Flüchtlinge in ihren Ländern haben. Manche Leute sagen, die Nazis sind dumm. Aber sie haben einen Kopf: Sie wissen, was sie tun. Sie können verstehen, was gut und was nicht gut ist. Manche Nazis fragen mich das auch auf der Straße, manchmal laut und betrunken: »Warum bist du hier? Was willst du hier?« Was hast du für ein Problem? Ich habe Respekt für dich, warum hast du keinen Respekt für mich? Wir Jungen hier haben kein Problem: Jeder Mensch ist mein Bruder oder meine Schwester. Wir kommen nicht, um Probleme zu machen, wir kommen um hier zu leben. Aber sie geben mir darauf keine Antwort. Ich bin müde von Problemen.

Generell frage ich mich: Wir haben so viele Probleme in Afghanistan. Nicht seit fünf Jahren. Seit 30 Jahren. Viele Leute kümmern sich sehr um die syrischen Flüchtlinge aus Syrien. Aber wir haben alle Probleme. Wir sind alle gleich. Ich wünsche mir, dass die Helfer und Deutschland auch die Menschen aus Afghanistan so sehr unterstützen.“

Wir danken dem jungen Mann für das Gespräch und die Einblicke in den Alltag in Groß Klein!

„Rostock hilft“ hat dieses Gespräch geführt, weil wir die Stimmen der Geflüchteten sichtbar machen möchten. Politische Entscheidungen, die ohne die Betroffenen von rechter und rassistischer Gewalt stattfinden, werden immer lückenhafte Entscheidungen sein. Der Schutz der Jugendlichen aus Sicht von Innenministerium und Polizei mag einfach gedacht und schnell umgesetzt sein: Räumliche Trennung. Doch aus dem Gespräch heraus haben wir begriffen, wie wichtig es ist, langfristig und weiter zu denken. Folgende Forderungen betreffen weiterführende Entscheidungen auf Bundes- und Landesebene, sowie innerhalb der Stadtverwaltung.

  • Der Schutz der Jugendlichen bedeutet den Schutz der Familien. Deshalb: Schnelle Asylverfahren für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge! Familiennachzug schnell und unkompliziert! Mehr Personal und schnellere Bearbeitung der Anträge in den Botschaften! Familiennachzug auch für Jugendliche mit Subsidiärem Schutz***!
  • Ankommen in Deutschland bedeutet auch: Kompetente Ansprechpartner_innen für alle Fragen des Alltags zu haben. Und gerade bei Jugendlichen auch, Perspektiven für das Leben in Deutschland zu entwickeln. Deshalb: Integrative Jugendprojekte wie das Teilhabezentrum müssen erhalten und gefördert werden!
  • Rechte Gewalt hinterlässt ihre Spuren. So waren wir nicht die ersten, die mit dem jungen Mann gesprochen haben. Eine Beratungsstelle für Betroffene rassistischer Gewalt arbeitet seit mehreren Wochen mit den Jugendlichen. Deshalb: Förderung und Ausbau einer qualifizierten und kompetenten Beratungs- und Therapiestruktur! Und zwar in ganz MV!
  • Die Asylsuchenden aus Groß Klein weg zu schicken, löst nicht das tatsächliche Problem rassistischer Einstellungen, Pöbeleien oder Übergriffe. Auch Nazis können sich von einem Stadtteil in den nächsten bewegen! Deshalb: Förderung von Bildungsarbeit an Schulen zu den Themen Migration/Flucht/Asyl/Rechtsextremismus! Damit sind sowohl qualifizierte, außerschulische Angebote vielfältiger Bildungsträger gemeint, als auch die inhaltliche und didaktische Weiterbildung von Lehrer_innen!
  • Und zu guter Letzt: Politiker_innen aller Parteien und Entscheidungsträger_innen jeder Gesinnung: Redet mit den Betroffenen! Bezieht sie Entscheidungen ein!

*Zum Schutz der Jugendlichen haben wir den neuen Wohnort anonymisiert.
** Daesh ist das arabische Wort für den Islamischen Staat.
*** Subsidiärer Schutz ist ein Aufenthaltstitel, der dann vergeben wird, wenn keine persönliche Gefahr im Herkunftsland, sondern „nur“ eine allgemeine Gefahr besteht. Im März wurde der Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge mit diesem Status wieder unmöglich gemacht, nachdem er erst 2015 eingeführt wurde. Auffällig ist, dass seitdem etwa die Hälfte aller syrischen Asylsuchenden nur noch diesen Status erhält.

 


Foto: (CC): Marco Fieber

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